Debatte um späteren Unterrichtsbeginn
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Besonders Schülerinnen und Schüler in der Pubertät sind an manchen Tagen, wenn um acht Uhr oder früher die Schulglocken läuten, höchstens körperlich präsent.
Schlafforscher raten zu einem späteren Unterrichtsbeginn. Welche Gründe sprechen dafür, welche dagegen?
Viele Jugendliche leiden unter chronischem Schlafmangel
Eine Studie von 2012 zeigt, dass sich 62% der befragten 16- bis 25-Jährigen tagsüber nicht ausgeruht fühlten. Im Schnitt schliefen sie nur etwa sechseinhalb Stunden, gut 20% davon sogar weniger als fünfeinhalb Stunden.
Schlafexperten empfehlen für Teenager aber acht bis zehn Stunden Schlaf. Viele unterschreiten ihre optimale Schlafzeit demnach gleich um mehrere Stunden.
Kurzzeitig verkraftet unser Körper das ohne Probleme. Doch ein anhaltender Schlafmangel führt zu einer geringeren Leistungsfähigkeit in der Schule und wirkt sich negativ auf das allgemeine Wohlbefinden und die physische und psychische Gesundheit aus, wie diese und weitere Studien ebenfalls anführen.
Lange wurde den „Kurzschläfern“ herzlich wenig Mitgefühl entgegengebracht: Selbst schuld, wer am Morgen müde ist, soll eben früher ins Bett.
Schlaf-Wach-Rhythmus und früher Unterrichtsbeginn sind bei Teenagern nicht kompatibel
Klingt logisch, doch die Wissenschaft steht den Jugendlichen bei: Chronobiologen machen die innere Uhr der Jugendlichen für die Schlafgewohnheiten verantwortlich: Sie gehe in der Pubertät um mehrere Stunden nach, weswegen es den Schülerinnen und Schülern schlichtweg nicht möglich sei, früher Schlaf zu finden.
Sie leiden durch die Verschiebung des Schlaf-wach-Rhythmus sozusagen unter chronischem Jetlag. Biologisch gesehen liegt der Unterrichtsbeginn für viele Jugendlichen mitten in der Nacht.
Die Folgen sind ein geringerer Lernerfolg, da das Gehörte sozusagen im Schlafmodus nicht abgespeichert werden kann, und damit schlechtere schulische Leistungen.
Wer dazu noch eher eine „Eule“, also ein Abendtyp, als eine Lerche ist, hat es doppelt schwer. An dieser Grundeinstellung des Körpers kann man selbst nichts ändern, sie ist genetisch bedingt.
Eine Gruppe von Wissenschaftlern konnte in einer aktuellen Studie belegen, dass Schülerinnen und Schüler, die zu den späten Chronotypen zählen, sowie Jugendliche mit einem Schlafdefizit bei Klassenarbeiten am Morgen schlechter abschnitten als am frühen Nachmittag. Andersherum hatten die Morgentypen keinen Nachteil durch die spätere Prüfungszeit.
Um eine Benachteiligung der Abendtypen zu vermeiden und der inneren Uhr der Pubertierenden entgegenzukommen, empfehlen sie einen späteren Unterrichtsbeginn (z.B. Schule ab 9 Uhr) und die Verlegung von Prüfungen auf den frühen Nachmittag: „Der Schulbeginn um 8 Uhr stellt eine echte biologische Diskriminierung dar.“, meint Till Roenneberg, einer der an der Studie beteiligten Wissenschaftler gegenüber der Süddeutschen Zeitung.
Was spricht gegen Schule ab 9 Uhr?
Regelmäßig nach der Veröffentlichung von Studien und eindringlichen Mahnungen von Chronobiologen, dass die Schule besonders für Teenager später beginnen sollte, entspinnt sich eine rege Debatte um einen späteren Unterrichtsbeginn in Politik, Medien und Öffentlichkeit. Seither sind auch tatsächlich einige Pilotprojekte an Schulen gestartet, die eine Verschiebung des Unterrichtsbeginns testen.
Doch eine allgemeine Änderung ist nach wie vor nicht in Sicht. Zu viele v.a. organisatorische Gründe scheinen dagegen zu stehen:- Für Eltern mit frühem Arbeitsbeginn könnte durch einen späteren Schulstart ein Betreuungsproblem entstehen.
Eine mögliche Lösung, die auch an einigen Pilotschulen zum Einsatz kommt, ist eine Frühbetreuung für Kinder berufstätiger Eltern. - Ein geänderter Schulbeginn wirkt sich auf den öffentlichen Nahverkehr aus, der angepasst werden müsste. In manchen Fällen würde das Mehrkosten bedeuten, da zusätzliche Busse eingesetzt werden müssten, in anderen könnte es die Belastung des Nahverkehrsnetzes aber auch entzerren.
- Auch eine Verschiebung der Klausurzeiten ist nicht immer unproblematisch. Schon bei der Planung der Stundenpläne müsste berücksichtigt werden, dass jedes Fach in jeder Klasse auch ab etwa 9 Uhr unterrichtet wird. Die Erkenntnis, dass durch frühe Klausuren ein Teil der Schülerinnen und Schüler benachteiligt wird, sollte aber auch nicht abgetan werden und v. a. bei älteren Schülern, soweit möglich, berücksichtigt werden. Die „Eulen“ in Ihrer Klasse werden es Ihnen danken ;-)
- Fragt man die Schülerinnen und Schüler selbst, ist die Meinung geteilt, da ein späterer Unterrichtsbeginn ab 9 Uhr auch weniger Freizeit am Nachmittag zur Folge hat.
Würde man die Lehrerinnen und Lehrer dazu befragen, dürfte das Ergebnis ähnlich ausfallen. Unter ihnen sollen sich übrigens viele Lerchentypen tummeln – da kann man nur sagen: Bei der Berufswahl aufgepasst :)
Ist der Wille zur Veränderung vorhanden, legen zumindest die Schulgesetze der meisten Länder den Schulen keine Steine in den Weg und geben lediglich einen groben Rahmen für einen möglichen Unterrichtsbeginn vor. In Nordrhein-Westfalen plant die Landesregierung derzeit die Spanne eines möglichen Unterrichtsbeginns von 7:30 Uhr bis 8:30 Uhr auf 9:00 zu erweitern, was den Schulen mehr Spielraum gibt. (News4Teachers, 19.07.2022)
Diesen Punkten gegenüber steht eine Verbesserung des Lernalltags der Schülerinnen und Schüler. Gerade in der ersten Stunde sind viele nicht besonders aufnahmefähig, was auch für die Lehrkräfte frustrierend sein kann. Auch die Zeit des coronabedingten Lockdowns mit Fernunterricht an Schulen hat nach einer Studie von Kinderärzten der Universität Zürich ergeben, dass das längere Ausschlafen bei Jugendlichen zu mehr Lebensqualität beigetragen habe (zur Studie)
Inzwischen haben einige Schulen damit begonnen, flexible Modelle zum Schulbeginn zu testen:
- Die ersten Erfahrungen an einer Reformschule in Kassel sind positiv, wie News4Teachers berichtet: Offiziell beginnt der Unterricht um 8.35 Uhr. Etwa die Hälfte der Schüler kommt aber bereits früher zum „Früben“ („freies Üben“). Andere trudeln etwas später ein und allgemein stellt die Schule fest, dass weniger Schüler zu spät in den Unterricht kommen.
Eine Wiesbadener Schule macht ähnliche Erfahrungen: Vor allem älterer Jungen nutzen hier die Option auszuschlafen und erst zum regulären Beginn um 8.30 Uhr vor Ort zu sein. - Auch für Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums in der Karl-Heine-Straße in Leipzig beginnt die Schule seit kurzem später: Die Klassen 7 bis 9 starten erst um 8.50 Uhr in den Schultag. Die Schule plante ein ganzheitliches Konzept, das neben dem Biorhythmus der Jugendlichen eine geänderte Pausenregelung für ausreichend Frühstückszeit vorsieht. (MDR, Erst kurz vor 9 zur Schule - Leipziger Gymnasium testet späteren Unterrichtsbeginn, 11.07.2021 - Link nicht mehr aktiv)
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Lesetipps:
- Süddeutsche Zeitung: Je später der Schulbeginn, desto besser die Noten (20.10.2017)
- Bildungsklick: Morgenstund’ hat Schlaf im Aug’ (10.12.2018)
- Spektrum.de: Acht Uhr ist zu früh zum Lernen (30.04.2015)
- Magazin Schule: Später zur Schule? Doch lieber nicht (16.12.2021)
- RND: Mehr Schlaf im Lockdown tat Schülern gut: Argument für späteren Schulbeginn? (13.01.2022)
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