Der spielzeugfreie Kindergarten - sinnvolle Spielzeugpausen einlegen
Immer mehr Experten plädieren dafür, auch spielzeugfreie Zeit in Betreuungseinrichtungen wie Kindergärten oder Kitas anzubieten. Warum eigentlich? Ist das nicht furchtbar langweilig?
Was machen die Kinder denn nur ohne Spielzeug?
Das erfahren Sie in diesem Beitrag
Gutes Spielzeug fördert Kinder, so viel steht fest. Die verschiedenen Fördermöglichkeiten, die sich durch pädagogisch durchdachtes Spielzeug ergeben, sind immens. Das Erkennen und Verstehen von Farben und Formen wird durch Bauklötze erlernt, soziale Interaktion und Fantasie werden mit Rollenspielen in Kaufladen oder Puppenecke vermittelt. Für jede Entwicklungsstufe und jedes Bedürfnis gibt es heute die passenden Bildungsangebote und Spielzeuge. Spielzeug ist also wichtig für Kinder und ist fester Bestandteil ihrer Lebenswelt.
„Für Kinder ist es wichtig, ihrer inneren Kreativität zu folgen. Es macht sie unabhängig von äußerer Anerkennung und Zustimmung. Kreativität ist zentral, um Selbstwert zu entwickeln. Kinder, die sich gelegentlich langweilen, werden eine größere innere Ruhe spüren, die ihre soziale Kompetenz fördert.“
(Jesper Juul, www.derstandard.at)
Der erste Impuls bei einer spielzeugfreien Zeit wird also die Langeweile sein, doch auf diese folgt die Kreativität. Basierend auf der Idee von Elke Schubert und Rainer Strick, die das Konzept im Rahmen der Suchtprävention 1992 ins Leben gerufen haben, hat die Zeit ohne Spielzeug heute einen festen Platz im Jahreskalender vieler Einrichtungen. Ziel ist die Überwindung von Frustration, ohne dass sich die Kinder mit einem Konsumgut/Spielzeug ablenken.
Was ist der spielzeugfreie Kindergarten?
In der spielzeugfreien Zeit werden für einen bestimmten Zeitraum alle Spielzeuge, Kuscheltiere, Bücher und Malutensilien aus der Einrichtung entfernt. Alles „Vorgefertigte“ wird aus dem Alltag verabschiedet – seien es angebotene Aktivitäten oder eben Spielzeug. Manche Kindergärten und Kitas räumen, gemeinsam mit den Kindern, alles in Kisten und lagern diese außerhalb der Spielbereiche. Andere hängen die Regale im Gruppenraum mit Decken ab und belassen das Spielzeug an seinem Ort.
Das Spielzeugfasten wird oft in Verbindung mit der Fastenzeit im christlichen Glauben kombiniert und kann in der Zeit zwischen Aschermittwoch und Karsamstag durchgeführt werden.
Gespielt wird in der darauffolgenden Zeit lediglich mit Alltagsgegenständen, Möbeln und Fundstücken aus der Natur. Wichtiger Bestandteil des Konzepts ist somit auch der regelmäßige Ausflug in die Natur.
Die Rolle der Erzieherinnen und Erzieher ändert sich für diese Zeit ebenfalls. Die Kinder sollen in der spielzeugfreien Zeit eigene Spielideen verwirklichen, denen die pädagogischen Kräfte zwar mit Hilfestellungen zur Seite stehen, allerdings nicht aktiv in das Spielgeschehen eingreifen.
Der komplette tägliche Ablauf wird für die vorher festgelegte Zeit aufgehoben und jeden Tag neu gestaltet. Das gemeinsame Essen fällt weg – jeder kann in der spielzeugfreien Zeit frei entscheiden, wann er etwas essen möchte. Dies geschieht, um den Spielfluss nicht durch gezwungene Abläufe zu unterbrechen.
Die optimale Dauer beträgt 12 Wochen.
Was sind die Förderziele der spielzeugfreien Zeit?
Durch das – aus dem Fehlen des Spielzeugs heraus – entstehende Spiel ergeben sich viele Vorteile. Frei nach dem Erfinder des Kindergartens, Friedrich Fröbel, ist Spiel die höchste Form der Kindesentwicklung. Förderprogramme und Bildungsangebote drängen die Zeit für freies und kreatives Spiel im Kindergarten immer weiter zurück.
Doch gerade im spielzeugfreien Spiel werden Kinder in den großen Kernbereichen gefördert:
- Kreativität und Fantasie
- Kommunikation und Sozialverhalten
- Selbstbewusstsein
Das Miteinander und die Kommunikation stehen auch ganz ohne Spielzeug bei Rollenspiel, Bewegungsspiel oder bei Bauprojekten im Fokus. Die Kinder sprechen Spielaktionen miteinander ab, fragen sich gegenseitig um Hilfe und entwickeln neue soziale Netze und Strukturen. Konflikte untereinander werden von den Kindern selbst bewältigt. Allerdings gilt auch hier, wie bei potenziellen Gefahren, ein Eingreifen der Pädagogen ist dann erforderlich, wenn es von den Kindern gewünscht ist bzw. wenn die Kinder nicht zu einer Lösung des Konfliktes gelangen.
Die Gesprächskreise, bei denen die Gruppe immer wieder zusammenkommt, unterstützen den Austausch und das soziale Wachstum und geben auch den Erzieherinnen und Erziehern die Gelegenheit, bestimmte Beobachtungen mit den Kindern zu reflektieren.
Wie funktioniert der spielzeugfreie Kindergarten?
Als Projekt, in dem Teilhabe großgeschrieben wird, ist es wichtig, alle Kinder miteinzubeziehen. Das heißt, dass die Kinder über mehrere Wochen bei der Planung des Projekts mitmachen, alles über die einzelnen Schritte erfahren und ihren Beitrag leisten. Wichtige Fragen werden gemeinsam geklärt: Wohin wird das Spielzeug geräumt? Welche Spielsachen verschwinden als erste? Wie lange soll die freie Zeit dauern? Welche Grundregeln brauchen wir in der spielzeugfreien Zeit? Beziehen Sie ebenfalls die Eltern mit ein, dies kann durch einen Elternabend oder einen Elternbrief erfolgen, und vermitteln Sie die Förderziele der spielzeugfreien Zeit.
Befragen Sie vor Beginn des Projektes die Eltern zu ihrer Meinung. Welche Grundeinstellung vertreten sie gegenüber dem „Spielzeugentzug“? Dies können Sie durch eine kurze, abtrennbare Umfrage am Ende des monatlichen Elternbriefes durchführen – die Rückmeldung erfolgt natürlich anonym.
Nach dieser Planungsphase werden alle Spielsachen eingepackt und aus dem Gruppenraum geräumt. Erlaubt sind ab diesem Punkt Alltagsgegenstände und Naturmaterialien, die von den Kindern selbst eingesammelt werden. Möbel sind natürlich ebenfalls im Gruppenraum zu belassen. Die Rolle der Erzieherinnen und Erzieher konzentriert sich auf das Beobachten und Bereitstellen von Unterstützung, wenn dies gewünscht ist. Ein „Bespielen“ oder auch „Animationsprogramm“ jeglicher Art ist nicht vorgesehen. Bestehende Grundregeln Ihrer Einrichtung bleiben natürlich auch während der Spielzeugpause bestehen, vor allem, wenn es sich um das Wohl der Kinder dreht.
Lassen Sie sich durch eventuelle Anlaufschwierigkeiten nicht entmutigen. Für alle Beteiligten ist die Umstellung zu Beginn nicht einfach. Die Gruppe muss sich in die neue Situation erst einfinden und lernen, mit den neu gewonnenen Freiräumen umzugehen. Begleiten Sie diesen Prozess und helfen Sie zurückhaltenden Kindern dabei, sich in die neue Gruppendynamik einzufinden.
Nach 12 Wochen ist es dann soweit: Gemeinsam mit der Gruppe werden die Spielsachen wieder „aus den Ferien“ geholt und wieder in das tägliche Spiel integriert. Besprechen Sie gemeinsam, ob alle Spielsachen zurückkehren sollen – oder ob es bestimmte Dinge gibt, auf die alle verzichten können. Auch hier liegt der Schwerpunkt auf Teilhabe und dem gemeinsamen Treffen von Entscheidungen.
Abgemilderte Formen
In seiner ursprünglichen Form wird der spielzeugfreie Kindergarten nicht von allen Einrichtungen durchgeführt, da die Dauer und die recht umfangreiche Organisation einige Kindergärten abschreckt.
Stattdessen werden abgemilderte Versionen in der Praxis umgesetzt:
- bei denen die spielzeugfreie Zeit nur 3 bis 4 Wochen andauert,
- ein fester Tag in der Woche spielzeugfrei ist
- und auch nicht das komplette Spielzeug entfernt wird (Spielmaterial, wie z. B. Bauklötze oder Murmeln, werden hierbei im Gruppenraum belassen)
Ablauf: spielzeugfreier Kindergarten
- Der Kindergartenmorgen wird zumeist mit einem Morgenkreis eingeleitet.
- Im Verlauf des Tages finden weitere Gesprächsrunden statt, um zu hören, wie es den einzelnen Kindern mit der Tagesgestaltung geht.
- Die Kinder haben größtmögliche Entscheidungsfreiheit, bestimmen also ihre Frühstückszeit ebenso selbst wie die Wahl ihres Spielpartners sowie die Auswahl der Spielmaterialien.
- Die Erzieherinnen greifen primär nicht in das Spielgeschehen ein, sondern halten sich als Beobachter im Hintergrund und treten erst dann in Erscheinung, wenn das Wohl des Kindes nicht mehr gewährleistet ist.
- Das Geschehen ist stark an den individuellen und auch wechselnden Bedürfnissen der Kinder ausgerichtet.
- Spaziergänge und Ausflüge gehören zum Sammeln des zukünftigen Baumaterials fest dazu.
- Die Erkenntnisse und Beobachtungen aus dem Freispiel bilden eine hervorragende Basis für zukünftige Entwicklungsgespräche mit den Eltern.
Benötigtes Material:
Auch in einer spielzeugfreien Phase wird natürlich Material zum Spielen benötigt. Sammeln Sie im Vorfeld
- Zeitungen
- Kisten/Kartons
- Naturmaterial (Fundstücke auf Spaziergängen)
- Tücher
- Röhren
- Kissen und Decken
Pro und Contra zur spielzeugfreien Kinderbetreuung
Pro | Contra |
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Kritik
Mit den folgenden Kritikpunkten könnten Sie sich bei der Durchführung des Projektes konfrontiert sehen:
- das Wegnehmen der Spielsachen wirkt sich negativ auf die kindliche Psyche aus/Gefühl der Bestrafung
- durch Spielzeug unterstützte Pädagogik-Konzepte (Montessori etc.) wiedersprechen sich mit der spielzeugfreien Zeit
- durch das Wegnehmen von Spielzeug wird es nur attraktiver gemacht
Offene Kommunikation und das Einbeziehen aller Beteiligten machen es sicher möglich, einen geeigneten und aufgeklärten Mittelweg für die Durchführung des Projektes zu finden.
Rückkehr zum regulären Ablauf
Am Ende der festgelegten Projektlaufzeit ist es dann soweit: Die Spielsachen, Malutensilien, Bücher und Kuscheltiere werden wieder in den Alltag der Gruppe integriert. Verbinden Sie diese erneute Umstellung mit einer abschließenden Befragung der Eltern. Durch diese finale Stimmungsaufnahme fällt es Ihnen leichter, das Projekt „spielzeugfreier Kindergarten“ zu bewerten. Auch die Entscheidung, ob und in welcher Form Sie die Aktion wiederholen, steht und fällt sicher damit, ob die Eltern mit an Bord sind.
Am Ende steht für alle aber sicherlich eines fest:
Spielen, das bedeutet ... Beobachten – Entdecken – Ausprobieren – Nachahmen – Erproben – Experimentieren … und das tut es mit oder ohne Spielzeug!
Schubert, Elke; Strick Rainer (2000, 10. Auflage). Spielzeugfreier Kindergarten - Ein Projekt zur Suchtprävention für Kinder und mit Kindern. München: Aktion Jugendschutz
www.kindergartenpaedagogik.de
www.erziehungskunst.de
https://kitakram.de
www.froebel-gruppe.de
www.spielzeugfrei.ch
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